Die Lehr-Lernforschung nimmt an, dass Lernende ein tieferes Verständnis von Inhalten erlangen, wenn sie sich Begriffe, Sachverhalte und Zusammenhänge selbst erklären und erschließen. Lehrkräfte oder Dozenten können Lernende dabei mit unterschiedlichen Impulsen zu solchen Selbsterklärungen anregen. Ob diese Impulse in der Konsequenz tatsächlich zu einem tieferen Verständnis von Lerninhalten führen, diese zentrale Frage untersuchen Bisra und KollegInnen (2018) in ihrer Metaanalyse »Inducing self-explanation: A meta-analysis«. Sie kommen zu einem eindeutigen Ergebnis.
Metaanalyse im Überblick
Fokus der Studie: Wirksamkeit von Impulsen zum Selbsterklären
Zielgruppe: SchülerInnen und erwachsene Lernende
Durchschnittliche Effektstärke: Mittlerer positiver Gesamteffekt (g = 0.55)
Weitere Befunde: Der Befund ist über unterschiedliche Kontexte und Einsatzformen hinweg stabil
Einleitung
Die bisherige Forschung konnte zeigen, dass SchülerInnen deutlich wirksamer lernen, wenn sie beim Lernen spontan und von sich aus regelmäßig ihr Verständnis überprüfen und versuchen, sich Zusammenhänge selbst zu erklären: Sie erschließen sich dadurch ein tieferes Verständnis und erbringen allgemein bessere Lernleistungen.
Häufig tendieren SchülerInnen allerdings dazu, Inhalte wie Prozessabläufe einfach auswendig zu lernen. So verstehen sie häufig nicht, wie einzelne Schritte aufeinander aufbauen oder welche Bedeutung sich hinter bestimmten Begriffen verbirgt. Sie entwickeln dadurch kein tieferes Verständnis der Inhalte. Lehrkräfte können mit dieser Situation unterschiedlich umgehen: Sie können SchülerInnen Erklärungen anbieten oder sie gezielt dazu anregen, sich selbst Begriffe und Zusammenhänge zu erklären.
In ihrer Metaanalyse untersuchen Bisra und KollegInnen diesen Sachverhalt: Profitieren SchülerInnen von Selbsterklärungimpulsen? Oder überfordern solche Impulse SchülerInnen eher und tragen damit nicht so effizient zum Lernen bei wie angenommen?
Kurz erklärt: Selbsterklärungen
Sich selbst etwas zu erklären ist eine kognitive Aktivität, die dazu führen soll, dass Lernende ein tieferes Verständnis von Lerninhalten entwickeln. Im Gegensatz zu sogenannten instruktionalen Erklärungen durch die Lehrkraft erschließen und erklären sich Lernende hier Begriffe, Sachverhalte und Zusammenhänge selbst.
Dabei stellen sie zum Beispiel Verknüpfungen zwischen den Inhalten von Aufgaben und ihrem eigenen Vorwissen her, machen sich bewusst, welche einzelnen Schritte zur Lösung einer Aufgabe nötig sind oder welche argumentativen Strukturen (z.B. These, Beleg oder Gegenthese) in einem Textabschnitt stecken.
Manche Lernende zeigen dieses Verhalten spontan, andere müssen durch Fragen und andere Impulse dazu angeregt werden. Solche Impulse können vor, während oder nach der Bearbeitung von Aufgaben eingesetzt werden. Zu diesen Impulsen gehören Formulierungen wie »Erklären Sie diesen Begriff«, »Begründen Sie diese Entscheidung«, oder »Welchen Lösungsschritt wenden Sie an und warum?«. Zentral ist dabei, dass diese Impulse selbst keine zusätzlichen Sachinformationen oder Erklärungen enthalten.
Worum geht es in dieser Studie?
Die Metaanalyse geht der Frage nach, ob SchülerInnen Lerninhalte besser erinnern, verstehen und auf neue Sachverhalte anwenden können, wenn sie bei der Bearbeitung von Aufgaben dazu angeregt werden, sich bestimmte Lerninhalte selbst zu erklären. Aus lernpsychologischer Sicht sollten bessere Leistungen durch Selbsterklärungen dadurch zustande kommen, dass SchülerInnen ihr vorhandenes Wissen nutzen, um sich neue Inhalte zu erschließen und diese tiefergehend verarbeiten und besser verknüpfen.
Die Metaanalyse basiert nahezu ausschließlich auf experimentellen Primärstudien. Diese vergleichen jeweils die Lernleistung von SchülerInnen, die bei Aufgaben schriftliche Selbsterklärungsimpulse erhalten, mit SchülerInnen, die zwar dieselbe Aufgabe bearbeiten, aber keinen Selbsterklärungsimpuls bekommen. In den Kontrollgruppen erhalten SchülerInnen stattdessen:
- Aufgaben ohne zusätzliche Impulse,
- zusätzliche inhaltliche Erklärungen (= instruktionale Erklärungen), oder
- Impulse, um Inhalte zu wiederholen, Zusammenfassungen zu erstellen oder sich gegenseitig etwas zu erklären.
Dadurch lässt sich klären, ob Selbstklärungsimpulse nur dann effektiver sind, wenn es im Vergleich dazu keine Impulse gibt, oder ob sie auch anderen Formen von Impulsen überlegen sind. Zusätzlich lässt sich im Rahmen von Moderatoranalysen feststellen, ob die Wirksamkeit von Selbsterklärungsimpulsen zum Beispiel vom Unterrichtsfach abhängt oder etwa davon, ob der Impuls vor, während oder nach der Aufgabenbearbeitung gegeben wurde – also vom Timing.
Insgesamt konnten die ForscherInnen 64 passende Studien aus dem Zeitraum zwischen 1993 und 2013 identifizieren. Darin enthalten sind Daten von 5.917 Lernenden. 41 experimentelle Vergleiche kommen aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, 13 experimentelle Vergleiche aus der Sekundarstufe und 18 experimentelle Vergleiche aus europäischen Ländern.
Was findet diese Studie heraus?
Über alle Studien hinweg ergab die Metaanalyse einen signifikanten mittelgroßen Gesamteffekt von g = 0.55 (Konfidenzintervall g = 0.45 bis g = 0.65) zugunsten von Aufgabenbearbeiten mit Selbsterklärungsimpulsen. Im Durchschnitt zeigen SchülerInnen eine höhere Lernleistung im Erinnern, Erklären und Anwenden von Inhalten, wenn sie Selbsterklärungsimpulse erhalten, als wenn sie die Aufgaben ganz ohne Impulse bearbeiten. In geringerem Maße gilt dies auch im Vergleich zu inhaltlichen Erklärungen (= instruktionale Erklärungen) oder anderen Impulsen, die von der Lehrkraft angeboten werden. Einen Überblick über alle untersuchten Formen von Impulsen finden Sie in der Übersicht über alle Einzelbefunde.
Die Moderatoranalysen zeigen darüber hinaus nur wenige statistisch bedeutsame Unterschiede in der Stärke der Effekte. Hervorzuheben ist etwa, dass Impulse, die SchülerInnen dazu anregen, Begriffe zu erklären, deutlich effektiver sind als sogenannte metakognitive Impulse – also Impulse, die sie dazu anregen, ihre Planung oder ihr Abschneiden bei der Aufgabe zu erklären. Insgesamt liefern die Befunde ein einheitliches Bild ab: Aufgabenbearbeiten mit Selbsterklärungsimpulsen ist lernförderlicher als Aufgabenbearbeiten mit anderen oder keinen Impulsen.
Wie bewertet das Clearing House Unterricht diese Studie?
Die Clearing House Unterricht Research Group bewertet die Metaanalyse anhand der folgenden fünf Fragen und orientiert sich dabei an den Abelson-Kriterien (1995):
Wie substanziell sind die Effekte?
Die durchschnittliche Effektstärke liegt nach der üblichen Einteilung nach Cohen (1988) im mittleren Bereich (g = 0.55). Diese Effektstärke bedeutet, dass etwas mehr als 70 % der Lernenden mit Selbsterklärungsimpulsen besser abschneiden als der Durchschnitt der Lernenden aus den Kontrollgruppen mit anderen oder keinen Impulsen. Dieser positive Effekt ist über viele unterschiedliche Situationen und Bedingungen stabil. Gleichzeitig zeigen einige Studien, dass die Wirksamkeit auch deutlich höher liegen kann – zum Beispiel, wenn Lernende dazu angeregt werden, sich Begriffe zu erklären. Entscheidend bei der Einschätzung der Effektstärken ist, dass fast alle Studien (über 90 %) ein experimentelles Design aufweisen. Dadurch gewährleisten sie zuverlässiger, dass die Effekte tatsächlich aufgrund der Selbsterklärungsimpulse zustande kommen und nicht aufgrund anderer Studienmerkmale.
Allerdings enthält die Metaanalyse keine Informationen dazu, mit welchen Testinstrumenten die Leistungen gemessen wurden. Diese Informationen wären hilfreich, da aus der Forschung bekannt ist, dass es oft einen Unterschied macht, ob standardisierte} oder nicht-standardisierte Leistungstests verwendet wurden (vgl. Cheung & Slavin, 2016).
Wie differenziert sind die Ergebnisse dargestellt?
Die Differenziertheit der berichteten Effekte wird anhand der Bereiche Schulfächer, Altersstufen und der untersuchten Erfolgskriterien eingeschätzt. Die Metaanalyse liefert differenzierte Werte zu unterschiedlichen Fachbereichen (Mathematik, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Informatik) und unterschiedlichen Altersstufen (Primarstufe, Sekundarstufe, erwachsene Lernende). Zu den untersuchten Erfolgskriterien gehörten unter anderem Wiederholen/Erinnern, Verständnis, Transfer sowie Problemlösen. Unterschiede zwischen den drei Kontexten sind jedoch nicht signifikant. Das heißt, dass sich Selbsterklären in allen drei Bereichen ähnlich positiv auswirkt.
Wie verallgemeinerbar sind die Befunde?
Selbsterklärungsimpulse können auf vielfältige Art und Weise und in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden. Die zahlreichen und unterschiedlichen Moderatoranalysen zeigen diese Flexibilität (siehe Übersichtstabelle). Die Moderatoranalysen zeigen auch, dass bis auf wenige Ausnahmen hier keine statistisch bedeutsamen Unterschiede festgestellt werden konnten. Dies spricht dafür, dass der positive Effekt solcher Impulse gut verallgemeinert werden kann.
Nicht untersucht wurde allerdings, ob und wie Impulse zum Selbsterklären mit individuellen Voraussetzungen von Lernenden oder mit der Komplexität der Lerninhalte zusammenhängen. Lernende gehen jedoch häufig mit unterschiedlichem inhaltlichen Vorwissen und unterschiedlichen Fähigkeiten an das selbstständige Bearbeiten von Lerninhalten heran. Außerdem stellen Lerninhalte unterschiedlich hohe Anforderungen. Insofern wäre es hilfreich gewesen, diese Faktoren ebenfalls zu untersuchen.
Was macht die Metaanalyse wissenschaftlich relevant?
Die vorliegende Metaanalyse ist wissenschaftlich bedeutsam. Sie analysiert erstmals umfassend Studien zur Wirksamkeit von Selbsterklärungsimpulsen. Zudem trägt sie empirisch zur Beantwortung wichtiger wissenschaftlicher Fragestellungen aus der Lehr-Lernforschung bei – etwa zu der zentralen Frage, ob es tatsächlich effektiver ist, Lernende selbst Erklärungen formulieren zu lassen, anstatt ihnen zusätzliche Erklärungen anzubieten (sog. Coverage Hypothese; vgl. Hausmann & VanLehn, 2010). Die Metaanalyse kann diese Frage zwar grundsätzlich mit »Ja« beantworten, allerdings bleiben wichtige und praxisrelevante Fragen für zukünftige Forschung offen:
- Gilt der positive Effekt für Lernende mit unterschiedlichen Kompetenzen und Aufgaben von unterschiedlicher Komplexität?
- Verinnerlichen Lernende Selbsterklärungsstrategien dadurch, dass Lehrkräfte sie zunächst häufig und regelmäßig dazu anregen und mit zunehmender Expertise der Lernenden kontinuierlich ausschleichen – auch fading genannt?
- Können digitale Anwendungen, die stärker individualisierte Impulse geben, die Wirksamkeit von Impulsen noch weiter erhöhen?
Wie methodisch verlässlich sind die Befunde?
Die Transparenz und Begründung des methodischen Vorgehens entspricht nur teilweise den Kriterien gängiger Anforderungskataloge (z.B. APA Metaanalysis Reporting Standards) Zwar wurden alle wichtigen Details bei der statistischen Analyse berichtet. Die AutorInnen dokumentierten jedoch die Schritte bei der Suche und Auswahl und Kodierung der Primärstudien nicht hinreichend. Weitere Informationen zur Beurteilung des methodischen Vorgehens finden Sie in unserem Rating Sheet.
Fazit für die Unterrichtspraxis
Die vorliegende Metaanalyse zeigt auf der Basis von 20 Jahren Forschung, dass SchülerInnen grundsätzlich davon profitieren, wenn sie bei Aufgaben dazu angeregt werden, sich Sachverhalte selbst zu erklären und intensiver über Zusammenhänge nachzudenken.
Die Befunde zeigen zudem, dass Impulse zu Selbsterklärungen im Durchschnitt auch effektiver sein können, als wenn Lehrkräfte den SchülerInnen Sachverhalte erklären. Geht es also darum, dass SchülerInnen ein tieferes Verständnis von Inhalten entwickeln, empfiehlt es sich für Lehrkräfte und für das Gestalten von Lernmaterialien, SchülerInnen dazu anzuregen, erst einmal selbst genauer nachzudenken. Zum Beispiel können sie sich selbst erklären, was sie unter einem bestimmten Begriff verstehen.
Offen bleibt in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, wie Selbsterklärungen bei komplexen Sachverhalten oder bei SchülerInnen mit geringem Vorwissen abschneiden. Womöglich sind digitale Angebote mit adaptiven Methoden (vgl. Kurzreview 21) hier ein hilfreiches Instrument für die Zukunft. Für gesicherte Antworten bedarf es weiterer Forschung in diesem Bereich.
Studienbeispiel
Die Studie von Eckhardt und KollegInnen (2013) zeigt, dass Impulse zur Selbsterklärung mindestens so wirksam sein können wie instruktionale Erklärungen. An der Studie im Biologieunterricht der achten Klasse nahmen 124 SchülerInnen teil. Im Themenbereich »Ökosystem Wasser« war das Lernziel, dass SchülerInnen die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung von Jäger- und Beutepopulationen verstehen. In einer computerbasierten Lernumgebung konnten die SchülerInnen im Sinne des Forschenden Lernens Vorhersagen zur Entwicklung der beiden Populationen aufstellen. Mithilfe einer Computersimulation testeten sie ihre Vorhersagen und konnten ihre Ergebnisse anschließend interpretieren.
Die Studie untersucht, welche Art der Unterstützung SchülerInnen insbesondere bei der Interpretation der Ergebnisse am wirksamsten geholfen hat. Die WissenschaftlerInnen unterscheiden dabei drei Arten von Unterstützung, wobei die Schulklassen per Zufall einer von drei Untersuchungsbedingungen zugewiesen wurden:
- In der ersten Bedingung erhielten die SchülerInnen den Auftrag, ihre Ergebnisse selbst zu beschreiben und zu interpretieren (Selbsterklärungsimpuls).
- In der zweiten Bedingung gab das Computerprogramm eine komplette Interpretation der Ergebnisse für die SchülerInnen aus (vorgegebene Erklärung).
- In der dritten Bedingung gab es – abgesehen von der Aufgabenstellung – keine weiteren Aufträge oder Hilfestellungen (ohne Unterstützung).
Alle SchülerInnen arbeiteten insgesamt zweimal 90 Minuten mit dem Lernmaterial. Die Ergebnisse der Wissenstests nach den jeweiligen Lerneinheiten zeigten, dass Selbsterklärungsimpulse (Bedingung 1) die besten Leistungen erbrachten und auch instruktionale Erklärungen (Bedingung 2) zu besseren Leistungen führten als in der Bedingung, die weder Erklärungen noch zusätzliche Unterstützung erhielt (Bedingung 3).