Kann es ein Unterrichtsziel sein, kritisches Denken zu fördern? Diese Frage beschäftigt auch die Bildungsforschung seit den 1930er Jahren. Aus dem Diskurs hat sich mittlerweile eine belastbare theoretische Definition herauskristallisiert, die Haltung und Fähigkeiten des kritischen Denkens so beschreibt, dass sie gezielt unterrichtet und empirisch getestet werden können. Seither sind zahlreiche empirische Studien entstanden. Sie untersuchen, wie SchülerInnen dabei unterstützt werden können, kritisches Denken zu lernen. Die Metaanalyse »Strategies for Teaching Students to Think Critically: A Meta-Analysis« von Abrami und KollegInnen (2015) sammelt diese empirischen Befunde erstmals umfassend und systematisiert die Befunde.

Metaanalyse im Überblick

Fokus der Studie: Förderung von kritischem Denken im Unterricht

Zielgruppe: GrundschülerInnen bis Erwachsene

Durchschnittliche Effektstärke: Kleiner positiver Effekt (g = 0.30)

Weitere Befunde: Förderung am effektivsten bei Kombination von anwendungsnaher Instruktion, dialogbasiertem Lernen und Mentoring (g = 0.57; mittlerer Effekt)

Einleitung

Die Erkenntnis, den eigenen Verstand kritisch nutzen zu können, ist die Errungenschaft der Aufklärung. Zum kritischen Denken gehört die grundsätzliche Bereitschaft, Dinge in Frage zu stellen und ihnen auf den Grund zu gehen – also eine kritische Grundhaltung – genauso wie spezifische kognitive Fähigkeiten im Aufwerfen von Fragen, der eigenständigen Recherche, Analyse, Evaluation und Integration von Information, um damit zu einem begründeten und erklärbaren Urteil zu gelangen.

Die besondere Bedeutung dieser Kompetenz als Bestandteil des Leitbilds eines mündigen Menschen ist unbestritten. Doch die Frage, wie dieses komplexe Konstrukt aus Grundhaltung und kognitiven Fähigkeiten gefördert werden kann, wird heftig diskutiert. In der über Jahrzehnte dauernden und überwiegend theoretisch geführten Diskussion wird immer wieder der Standpunkt vertreten, dass der geregelte und reglementierte Rahmen von Unterricht im völligen Widerspruch zum kritischen Denken steht.

Die vorliegende Metaanalyse geht diesem Argument nun empirisch nach und klärt unter Berücksichtigung sämtlicher verfügbarer empirischer Befunde, ob und auf welche Art kritisches Denken im Unterricht gefördert werden kann. Dabei liefert sie beispielsweise auch Hinweise, ob kritisches Denken in eigens dafür entwickelten Unterrichtseinheiten explizit trainiert werden muss, oder zusammen mit fachspezifischen Inhalten unterrichtet werden kann.

Worum geht es in dieser Studie?

Erste empirische Studien zur Förderung des kritischen Denkens entstanden in den USA bereits in den 1930er Jahren. In den 1980er Jahren entwickelte eine Expertenkommission der American Philosophical Association aus dem Forschungsstand eine Definition des kritischen Denkens (Facione, 1990).

Diese umfassende Beschreibung der kritischen Grundhaltungen und der kognitiven Fähigkeiten bildet die Grundlage der vorliegenden Metaanalyse.

Abrami und KollegInnen identifizieren im Zeitraum von 1930 bis 2009 insgesamt 867 einschlägige in englischer Sprache verfügbare Studien, von denen mehr als 70 % nach 1990 veröffentlicht wurden. Auf Basis dieser Studien gehen sie der Frage nach, ob kritisches Denken tatsächlich im Unterricht gefördert werden kann. In sogenannten Moderatoranalysen klären sie zudem, wie Lehrkräfte die Förderung besonders effektiv gestalten können.

Analyseprozess der Metaanalyse in zwei Phasen.

Den Analyseprozess teilen sie in zwei Phasen auf (siehe Abbildung): Mithilfe einer methodischen Analyse sortieren sie in der ersten Phase gezielt Studien geringerer methodischer Qualität aus, da ihre Moderatoranalysen zeigen, dass die Qualität der Studien (Art des Studiendesigns und Art der Testinstrumente) die Ergebnisse der Analysen beeinflusst. Das könnte unter Umständen zu verzerrten oder falschen Schlüssen führen.

Mit der deutlich reduzierten Zahl von Studien nehmen sie in der zweiten Phase eine inhaltliche Analyse vor. Hier untersuchen sie sowohl, wie sich Unterricht von kritischem Denken auf verschiedene Lernerfolgskriterien auswirkt als auch, welche Effekte unterschiedliche Förderansätze und Vermittlungsarten auf die Lernleistung haben.

In der folgenden Tabelle sind neben den Stufen dieser zentralen Moderatoren auch weitere untersuchte Moderatoren angeführt:

Tabelle: Überblick über die Moderatoren und ihre Stufen

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Was findet diese Studie heraus?

Auf Grundlage von 341 Studien von hoher methodischer Qualität zeigt sich ein kleiner positiver Effekt für die Förderung des kritischen Denkens im Unterricht von g = 0.30. Dieser Effekt ist stabil für unterschiedliche Ausbildungsstufen, Fachinhalte und Dauern der Intervention.

In der differenzierten Analyse nach den unterschiedlichen Lernerfolgskriterien zeigt sich für inhaltsspezifisches kritisches Denken ein mittelgroßer Effekt (g = 0.57; Anzahl Studien: 97) und für die kritische Grundhaltung ein kleiner Effekt (g = 0.23; Anzahl Studien: 25). Außerdem stellt sich heraus, dass die Förderung von kritischem Denken auch einen kleinen positiven Effekt (g = 0.33; Anzahl Studien: 140) auf das rein fachbezogene Lernen von Fakten und Inhalten hat.

Mit Blick auf die drei Förderansätze finden die AutorInnen signifikante Unterschiede – wobei jeder Ansatz für sich effektiv ist. Die Kombination aller drei Ansätze stellt sich als effektivster Ansatz heraus (g = 0.57, Anzahl Studien: 19 – alle Ergebnisse siehe »Einzelbefunde der Metaanalyse im Überblick«).

Im nächsten Schritt gehen sie noch weiter: Die Förderansätze sind unterteilt in verschiedene Varianten: Im Folgenden werden jedoch nur Varianten berichtet, zu denen ausreichend empirische Befunde vorliegen. In der statistischen Analyse zeigt sich, dass unter den anwendungsnahen Instruktionsformen signifikant positive Effekte zu beobachten sind, wenn angewandtes Problemlösen (g = 0.35, Anzahl Studien: 31) oder Rollenspiele (g = 0.61, Anzahl Studien: 5) zum Einsatz kommen. Für dialogbasiertes Lernen zeigen sich positive signifikante Effekte, wenn die Lehrkraft Fragen stellt (g = 0.38, Anzahl Studien: 19), wenn die ganze Klasse (g = 0.42, Anzahl Studien: 16) oder Kleingruppen (g = 0.41, Anzahl Studien: 14) unter Leitung der Lehrkraft diskutieren. Eine vollständige Darstellung finden Sie hier: »Kritisches Denken: Förderansätze und Varianten«.

Die unterschiedlichen Arten der Vermittlung unterscheiden sich nicht substanziell: Kritisches Denken kann auf verschiedene Arten im Unterricht vermittelt werden: Ob es explizit – in eigens dafür angebotenen Stunden und in Form von abstrakten Prinzipien – oder in Kombination mit konkreten Unterrichtsinhalten unterrichtet wird, spielt keine bedeutsame Rolle. Die Förderung ist dann am effektivsten, wenn abstrakte Prinzipien explizit vermittelt und trainiert werden und dann anhand konkreter Themen veranschaulicht, angewendet und vertieft werden (siehe auch »Einzelbefunde der Metaanalyse im Überblick«).

Wie bewertet das Clearing House Unterricht diese Studie?

Die Clearing House Unterricht Research Group bewertet die Metaanalyse anhand der folgenden fünf Fragen und orientiert sich dabei an den Abelson-Kriterien (1995):

Wie substanziell sind die Effekte?

Der stabil kleine Gesamteffekt von g = 0.30 zeigt an (in der Einordnung nach Cohen, 1988), dass es grundsätzlich möglich ist, kritisches Denken im Rahmen des Unterrichts zu fördern. Aus dieser Effektstärke lässt sich ablesen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine SchülerIn in der Experimentalgruppe ein besseres Ergebnis erzielt als in der Kontrollgruppe, bei ca. 60 % liegt. Bereits kurze intensive Interventionen (eine Stunde bis zwei Tage) bewirken bedeutsame Effekte. Durch die Kombination von verschiedenen Förderansätzen (d. h. von anwendungsnaher Instruktion, dialogbasiertem Lernen und Mentoring) können Effekte im mittleren Bereich erreicht werden. Dass diese Befunde anhand von (quasi-)experimentellen Untersuchungsdesigns und mit standardisierten Messverfahren für ein komplexes weitreichendes Konstrukt ermittelt wurden, spricht dafür, dass sie als substanziell einzuordnen sind.  

Wie differenziert sind die Ergebnisse dargestellt?

Die Differenziertheit der berichteten Effekte wird anhand der Bereiche Schulfächer, Jahrgangsstufen und des Erfolgskriteriums (z. B. Schulleistung) eingeschätzt. Abrami und KollegInnen vergleichen MINT-Fächer mit Nicht-MINT-Fächern – ohne signifikante Unterschiede zu finden. Eine weitere Ausdifferenzierung innerhalb der MINT-Fächer erfolgt nicht. Bezüglich der Altersgruppen unterscheiden sie innerhalb des Sekundarstufenalters zwischen 11 bis 15- und 16 bis 18-Jährigen. Dabei zeigen sich in der Mittelstufe größere Effekte als in der Oberstufe (g = 0.37 gegenüber g = 0.25) – allerdings ist dieser Unterschied nicht signifikant. Des Weiteren sind die Ergebnisse für verschiedene Lernerfolgskriterien differenziert berichtet: Kritisches Denken allgemein, inhaltsspezifisches kritisches Denken, kritische Grundhaltung und Lernen von Fachinhalten. 

Wie verallgemeinerbar sind die Befunde?

Die Verallgemeinerbarkeit des Gesamteffekts ist grundsätzlich als hoch einzustufen. Durch die strikte Auswahl der belastbarsten Studien auf Grundlage von Moderatoranalysen zur Art der Studiendesigns und Testinstrumente in der ersten Analysephase ist der berichtete Gesamteffekt ein guter Orientierungswert. Die Untersuchungen zeigen, dass der Gesamteffekt für verschiedene Fachinhalte, Altersgruppen (Grundschule bis Erwachsene) und Interventionszeiträume (von einer Stunde bis mehr als ein Semester) stabil ist. Darüber hinaus wäre interessant, inwiefern die Effekte auch in unterschiedlichen Ländern, sprachlichen und kulturellen Kontexten sowie über den langen Zeitraum der Entstehung der verschiedenen Studien hinweg stabil sind. Dazu wurden allerdings keine Analysen durchgeführt, sodass hier keine Aussagen möglich sind.

Was macht die Metaanalyse wissenschaftlich relevant?

Die Metaanalyse von Abrami und KollegInnen ist aus mehreren Gründen als wissenschaftlich sehr bedeutsam einzustufen: Erstens fasst sie Forschung aus beinahe acht Jahrzehnten erstmals umfänglich zusammen. Zweitens nutzt sie die vielen verfügbaren Effektstärken für ein exemplarisches metaanalytisches Vorgehen und höchste evidenzbasierte Qualitätssicherung (vgl. Abbildung). Drittens erweitert sie die über Jahrzehnte theoretisch geführte Debatte darüber, ob im Unterricht, also einem formalen vorgegebenen Rahmen, kritisches Denken gefördert werden kann, um ein gewichtiges Argument: Auf Grundlage sämtlicher verfügbarer empirischer Studien weist sie nach, dass kritisches Denken im Unterricht erfolgreich gefördert werden kann.

Wie methodisch verlässlich sind die Befunde?

Die methodischen Anforderungen an Transparenz und Nachvollziehbarkeit erfüllt die Metaanalyse in vielen Bereichen nahezu vollständig. Lediglich bei der Kodierung der Primärstudien sind einige Informationen nicht offengelegt. Weitere Informationen zur Bewertung des methodischen Vorgehens finden Sie in unserem Rating Sheet.

Fazit für die Unterrichtspraxis

Kritisches Denken kann im Unterricht effektiv gefördert werden. Auf Basis von zahlreichen methodisch hochwertigen Studien liefert die Metaanalyse ein solides Argument dafür, dass es in erster Linie wichtig ist, dass Lehrkräfte das Fördern von kritischem Denken überhaupt zu einem erklärten Unterrichtsziel machen. Wie das im Unterricht aussehen kann, dazu gibt es ein breites Spektrum an erfolgversprechenden Möglichkeiten: Angefangen von (angeleiteten) Diskussionen im Klassenverband bis hin zu Rollenspielen; von expliziter Vermittlung allgemeiner Prinzipien des kritischen Denkens bis hin zu enger Verzahnung mit spezifischen fachlichen Inhalten (siehe auch Studienbeispiel).

SchülerInnen können dabei nicht nur kognitives Handwerkszeug, sondern in gewissem Maße auch eine kritische Haltung erlernen. Bislang stammt ein Großteil der verfügbaren Forschung zum kritischen Denken aus dem englischsprachigen Raum. Für den deutschsprachigen Schulkontext ergeben sich daraus jedoch solide Hinweise, wie Lehrkräfte im Rahmen des Unterrichts Ihre SchülerInnen dabei unterstützen können, Sachverhalte zu hinterfragen und eigenständige Argumente zu entwickeln.

Studienbeispiel

In der Studie von Kaberman und Dori (2009) wird kritisches Denken – anhand der Fähigkeit, komplexe kritische Fragen zu stellen und dann zu bearbeiten – durch ein kurzes Training sehr effektiv gefördert. Die experimentelle Studie wurde im Chemieunterricht der zwölften Klasse mit insgesamt über 900 SchülerInnen durchgeführt. Alle SchülerInnen lernten in einer Serie von Unterrichtseinheiten mit einer komplexen computerbasierten Lernumgebung.

Die SchülerInnen der Experimentalbedingung erhielten am Anfang der Serie ein zusätzliches Training. Dessen Kernelement ist eine Taxonomie zur Kategorisierung von Fragen, die auch Hinweise zur Fragenkonstruktion liefert. Dafür geschulte Lehrkräfte stellten den SchülerInnen diese Taxonomie anhand von Fallbeispielen (anwendungsnahe Instruktion) vor und leiteten eine Übungsphase zur Anwendung (dialogbasiertes Lernen) an. Die Kontrollgruppe erhielt kein zusätzliches Training, ansonsten aber den gleichen Unterricht.

In der abschließenden Testung beschäftigten sich alle SchülerInnen mit Themen wie der Wirksamkeit einer Schokoladen-Diät oder der Gefahr durch Patulin im Apfelsaft. Sie sollten die dargebotene Information kritisch hinterfragen und ihre Fragen zum Ausgangspunkt eigener Recherchen machen. In Interviews mit den SchülerInnen sowie den Ergebnissen der fallbasierten Fragebogentests zeigten sich sehr große Effekte des Trainings auf die Fähigkeit, kritisch zu denken und komplexe, kritische Fragen stellen zu können.

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